Menschenhandel ist auch heute noch ein massives Problem in vielen Teilen der Welt. Besonders betroffen sind die Kinder. Jedes Jahr werden Hunderttausende Mädchen und Jungen von Schleppern zum Beispiel an Bordelle, an Plantagenbesitzer oder an die Textilindustrie verkauft. Auch in Äthiopien floriert das Geschäft mit den Kindern. In einem der ärmsten Länder Afrikas sind es aber häufig die eigenen Familien, die ihre Kinder verkaufen oder verpachten müssen.
Text: Martin Bondzio, Fotos: Malte Pfau
In Shendi, sieben Autostunden nordwestlich der Hauptstadt Addis Abeba, treffen wir die sechsjährige Abeba. Sie kommt gerade vom Brunnen und schleppt einen großen, knallgelben Plastikkanister Wasser auf ihrem Rücken nach Hause. Sie geht weit nach vorne gebeugt, weil der Behälter so schwer ist – viel zu schwer für ein kleines Kind. Viel können wir nicht über sie erfahren. Sie lebte mit ihrer Mutter bei ihren Großeltern. Der Großvater war der Einzige, der ab und zu mit Gelegenheitsarbeiten Geld nach Hause brachte. Als er starb, war die Familie mittellos, und Abeba wurde mit vier Jahren an eine fremde Familie verkauft. Hier muss sie seitdem hart arbeiten. Sie ist eine sogenannte Qenja, ein Kind, das von seiner Familie aus Armut an eine andere Familie verkauft bzw. verpachtet wurde. Vor Sonnenaufgang treibt sie bereits die Kühe aus dem Stall. Die Tiere sind fast dreimal so groß wie sie. „Anfang hatte ich Angst vor ihnen“, erzählt sie, „aber inzwischen weiß ich, wie ich mit ihnen umgehen muss.“ Danach muss sie für die Familie das Frühstück zubereiten. Während die leiblichen Kinder der Familie zur Schule gehen dürfen, macht Abeba den Haushalt: putzen, Wäsche waschen, Mittagessen kochen. Das benötigte Wasser schleppt sie von der Wasserstelle nach Hause. Der Fußmarsch zum Brunnen und wieder zurück ist lang und beschwerlich. „Mir tut dabei immer der Rücken weh“, sagt sie leise. Nach dem Abendessen müssen die Kühe wieder in den Stall getrieben werden. Abeba arbeitet an sieben Tagen in der Woche, Lohn bekommt sie selbstverständlich keinen, und der Zugang zu Bildung bleibt ihr verwehrt. Dennoch sieht Abebas neue Familie die Aufnahme des mittelosen Kinds als soziale Tat, das Qenja-System gar als notwendig an, um Kindern wie ihr zu helfen.
Auch in Äthiopien ist der Handel mit Kindern vom Gesetzgeber her verboten. Doch das Qenja-System gibt es in der Amhara-Region schon seit vielen Generationen. Viele Familien sehen in ihrer existentiellen Not keinen anderen Ausweg, außer ihre Kinder an wohlhabendere Familien zu verkaufen. Der Preis ist Verhandlungssache. Wir erfahren von einem Fall, wo ein Kind für 1.000 Birr (umgerechnet ca. 30 Euro) und eine Ziege für zwei Jahre verpachtet wurde. Diese Praxis ist seit vielen Jahren Normalität in diesem Teil Äthiopiens und mit dem Irrglauben verknüpft, dass man den Kindern so etwas Gutes tun kann. Immerhin ist bei den neuen „Besitzern“ des Kindes Nahrung und Unterkunft vermeintlich gesichert. Diese verkauften Kinder werden Qenjas genannt, und mitnichten ist dieses System der ausbeuterischen Kinderarbeit förderlich für die Mädchen und Jungen, die für fremde Familien schuften müssen. Teilweise sind die Qenjas auch körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgeliefert.
Die Kindernothilfe-Partnerorganisation Facilitator for Change (FC) arbeitet seit vielen Jahren daran, diese Strukturen aufzubrechen und das Qenja-System abzuschaffen. Damit dies gelingen kann, müssen viele Faktoren ineinandergreifen. Die armen Familien brauchen ein ausreichendes Einkommen, damit sie nicht aus der Not heraus ihre Kinder wegschicken müssen. Falls Familien in eine Notlage geraten, sollte zum Beispiel die Dorfgemeinschaft einschreiten und aushelfen. Außerdem ist es erforderlich, dass Erwachsene und Kinder über Kinderrechte aufgeklärt werden und diese auch ernst nehmen.
Unser Partner FC nutzt dafür die Gründung von Frauen-Selbsthilfegruppen und ist damit sehr erfolgreich. „In den Selbsthilfegruppen werden die Frauen auf verschiedenen Gebieten geschult“, sagt Edith Gießler, Kindernothilfe-Programmkoordinatorin für Äthiopien. „Sie entwickeln Geschäftsideen und sparen gemeinsam Geld, um diese Geschäftsideen mit Kleinstkrediten zu finanzieren. Zusammen mit anderen Selbsthilfegruppen schließen sich die Frauen zu Dachverbänden zusammen und erlangen so Einfluss auf die regionale Politik. Die Dachverbände schließen sich wiederum zu Föderationen zusammen und partizipieren so überregional an der Gestaltung ihres Landes.“
Fast 3.300 Frauen in drei Distrikten der Projektregion sind in 186 Selbsthilfegruppen organisiert, die sich in 26 Dachverbänden und drei Föderationen zusammengeschlossen haben. Diese Frauen verdienen mehr, können ihre Kinder versorgen, organisieren die Versorgung bedürftiger Kinder und wenden sich an die örtliche Regierung, um Maßnahmen zu erwirken, die die Situation ihrer Kinder verbessern. An allen Grundschulen der Region wurden Kinderrechteclubs gegründet. Die Kinder in den Clubs lernen ihre Rechte kennen und machen bei öffentlichen Auftritten mit Gedichten, Theaterstücken und Liedern auf die Belange der Kinder aufmerksam.
Die Frauen in den Selbsthilfegruppen verpflichten sich, ihre Kinder nicht als Qenja zu verkaufen und auch selber keine Qenjas zu beschäftigen. „Die Zahl der Qenjas ist im Projektgebiet auf null zurückgegangen“, schreibt FC in seinem Jahresbericht 2018. „Kinder konnten sogar zu ihren Familien zurückgeführt werden.“
Wie der Kreislauf der Armut durchbrochen werden kann, erzählt die Geschichte von Bosena Dememe. Die 38-jährige Frau stammt aus einer armen Familie. Sie selbst musste als Qenja arbeiten, bis sie verheiratet wurde und einen Sohn, Simachew, bekam. Die Ehe wurde geschieden, und Bosena hielt die kleine Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Nachdem Bosena das zweite Kind, eine Tochter, bekam, konnte sie nicht mehr alle versorgen und musste den damals achtjährigen Simachew an einen Bauern verkaufen. Das war im Jahr 2013. Im November 2014 schloss sich Bosena der örtlichen Selbsthilfegruppe an. Die Gruppe hat strenge Kindesschutzregeln und forderte Bosema auf, ihren Sohn zurück zu holen. Bosema hatte aber immer noch Angst, nicht für ihre Kinder sorgen zu können. „Mit dem ersten Kredit aus der Selbsthilfegruppe habe ich Hühner für eine Hühnerzucht angeschafft“, erzählt sie stolz. „In den Schulungen habe ich gelernt, wie ich die Eier gewinnbringend verkaufen kann.“ Bald verdiente sie genug Geld, um Simachew zurückzuholen. Bereits Anfang 2015 war Bosenas Sohn wieder zu Hause.
Mittlerweile hat Bosena neben der Hühnerzucht auch ein kleines Feld und pflanzt Paprika, Mais und Kartoffeln an. Sie hat für ihre Familie ein Häuschen gebaut und entwickelt immer neue Geschäftsideen. Sie ist jetzt in der Lage, ihren Lebensunterhalt und die Schulmaterialen für ihre Kinder selbstständig zu bestreiten. Das Wichtigste ist aber, dass ihre Kinder jetzt nicht als Qenjas arbeiten müssen, sondern in die Schule gehen können. Damit haben sie die Chance, den Kreislauf der Armut zu durchbrechen. Simachew ist mittlerweile 14 Jahre alt und möchte nach der Schule ein Medizinstudium aufnehmen.
Abebas Situation ist komplizierter gelagert. Der Aufenthaltsort ihrer Mutter ist nicht bekannt. Und nicht immer ist eine Familienzusammenführung auch das Beste für das Qenja-Kind. Für diese Kinder arbeiten wir an alternativen Lösungen. Im Fokus steht hierbei der nachhaltige Zugang zu Bildung. Dies möchten wir zusammen mit unserem Partner Facilitator for Change erreichen, indem wir das Projektgebiet erweitern. Das Ziel bleibt, das Qenja-System auch an anderen Orten faktisch abzuschaffen.
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